Ausfahrt Vorbereitung
Schon seit längerer Zeit wollte ich die Route der Lombardia Rundfahrt von 2021 endlich selber fahren. Aufgrund einiger Umstände und Zeitmangel habe ich mich entschieden, wenigstens einmal an einem Samstag das Rennen zu besuchen.
Das Idee war geboren, aus diesem Grund blieb Rocket an dem Samstag geschlossen.
Ich suchte weitere Kameraden für diesen Unterfangen. Fast wären wir zu viert gewesen, aber schlussendlich fuhren wir zu dritt. Die Fahrräder verstauten wir schon am Vorabend, sodass für den Start am frühen Samstagmorgen nichts im Wege stand.
Wie verabredet, starteten wir um 6.00 Uhr Richtung Como. Das Wetter sollte erste Sahne werden – ein wunderschöner Herbsttag mit fast sommerlichen Temperaturen.
Gute Entscheidung
Auf der Autobahn hatten wir so früh fast freie Fahrt. Müde, eben frisch aus den Betten geholte Gestalten versuchten das Aufwachen zu dritt, bis wir uns doch aufgeregt in das Tagesgeschehen stürzen konnten.
Trotz sorgfältigem Studium der Prognose erreichte uns die Realität kurz vor dem Gotthard-Tunnel – der Stau war länger als erwartet. Zum Glück befand sich das Ende direkt bei der Abzweigung nach Andermatt und kurzerhand fiel die Entscheidung: rechts ab!
Ah ja! Wir fuhren einen Tesla. War gar nicht übel, ein Elektroauto während einer Passfahrt zu erleben. Das Auto lief wie auf Schienen nach oben und schneller als erwartet erreichten wir die Passhöhe. Eine klare Morgenstunde, 5 Grad Celsius, absolute Ruhe. Einfach wunderbar!
War eine gute Entscheidung so früh wie möglich loszufahren – und eine noch bessere die Passstrasse zu nehmen. Am ende war ein anderes Erlebnis als die endlose Warterei vor und vielleicht auch im Tunnel. Nach 40 Minuten waren wir wieder auf der Autobahn, Richtung Il Lombardia.
Die Route
Die Planung für den Aufenthalt begann damit, einen geeigneten Parkplatz zu finden, wo wir auf die Velos umsteigen konnten. Was ich noch nicht erwähnt habe: der Tesla braucht auch Energie. Das Auto fand selber eine Ladestation – und das war auch der perfekte Platz, um den Fahrzeug-tausch vorzunehmen. Kurz Kaffeetrinken, umziehen und los!
Zuerst ging es in die Innenstadt von Como und dann dem Ufer entlang weiter nach Bellagio. Der Weg befand sich um diese Zeit noch auf der Schattenseite, dennoch die Stimmung war super, eine schöne Umgebung und viele Radfahrer. In Bellagio konnten wir endlich auch die Sonne geniessen. 2 Cappuccinos, 3 Fotos und weiter bergwärts. Oben angekommen, erreichten wir den Wallfahrtsort, Madonna del Ghisallo, wo eine kleine Kapelle dem Radsport gewidmet ist.
Madonna del Ghisallo
Wunderschöne Anstieg, am unteren Teil noch oft mit Ausblick auf den Comer See. Die Steigung hielt sich in Grenzen. Nach Plan sollten wir oben, neben der Kapelle zum ersten Mal auf den Peloton stossen. Sonnige und schattige Abschnitte wechselten sich bis oben rhythmisch ab.
Es war zu früh. Nach der schnellsten Marschtabelle sollte das Peloton frühestens um 15:00 Uhr ankommen. Jetzt ist genau 13 Uhr. Wir beschlossen, einfach da zu bleiben und zu warten. Schauten uns die Kapelle an, machten die obligatorischen Fotos. Neben der Kapelle steht hier auch ein Radsport-Museum. Wollten zwar es gerne besuchen, aber was sollten wir mit unseren Fahrrädern machen? Es reichte dann, sich nur im Shoppingbereich umzusehen. Hier hing ein Plakat: am Vortag hatte hier Jan Ulrich persönlich sein Toursieger-Velo dem Museum übergeben, in feierlichem Rahmen natürlich.
Sportgeschichte
Noch ein paar Fotos, aber dann mussten wir etwas trinken. In «Nahkampf» besorgten wir uns 2 Cola und suchten den besten Platz um zuzuschauen. Wenn man was zu tun hat, fliegt eine Stunde wie nichts vorbei. Wenn man aber eine Stunde warten muss, es ist ein bisschen anders.
Einige Meter vor uns ist richtige Italianita zu spüren. Einige lautstarke Nibali-Fans schnitten Käse und Salami, tranken Rotwein und kochten gar Pasta in dieser Wildnis! Was übrig blieb, verteilten sie an andere. Für Stimmung war gesorgt.
Die Abfahrt – Daiii, Daiii Tiger
Pünktlich um 15:00 Uhr kamen die Hubschrauber und die Motorräder in Sicht, und denn das bunte Peloton, angeführt vom kompletten UAE-Team. Sie rasten in wenigen Sekunden vorbei. Zogen uns an, machten uns bereit für die Abfahrt nach Como, wo wir zum zweiten Mal dem Peloton begegnen sollten. Eben als wir losfahren wollten, kam noch ein Gruppetto mit voller Begleitung hinten und vorne. Dann nichts mehr. Noch am Vortag planten eigentlich hinter dem Besenwagen runter zu fahren, aber die Lücke blieb. «Komm!», sagte einer von uns, «wir versuchen es!». Starteten und keiner sagte etwas. Wir, als TdF-erprobte Fahrer wissen, in Frankreich würden wir hiermit mindestens verhaftet. 🙂
Wir bemerkten langsam, dass wir uns auf der abgesperrten Rennstrecke der Lombardia Rundfahrt befanden und wieder sagte keiner etwas. Wir fingen an, die ganze Situation zu geniessen. Dann kam wieder ein grösseres Gruppetto. Der vordere Motorradfahrer zeigte uns an, dass wir am Strassenrand bleiben sollten, aber nichts weiter. Das passierte noch dreimal.
Also fuhren wir auf der abgesperrten Rennstrecke weiter. In den Ortschaften sicherten Strecken-posten für uns sichtbar die Kreuzungen, während die Zuschauer uns zujubelten. Das war wirklich ein fantastisches Gefühl!
Rund 10 Kilometern konnte ein Motorradfahrer von der Polizia nicht entscheiden, ob wir zum Renngeschehen gehörten oder nicht, und sicherheitshalber fuhr er uns mit sein Töff vor. Oberklasse!
In diesem Abschnitt hörte ich an einer Kreuzung eine Kinderstimme rufen: «Daiii Daiii Tiger!». Dieses Kind hat mein Outfit gewürdigt – kindlich, aufgeregt und aufrichtig, mit voller Power.
Alles hat ein Ende, so bogen wir in einer Linkskurve rechts ab und zwischen den Zuschauern verwandelten wir uns zurück in normale Menschen, nicht mehr und nicht weniger.
Como
Der zweite Treffpunkt mit dem Peloton liessen wir aus. Wir konnten nicht exakt bestimmen, wo sie zum zweiten Mal vorbeikommen würden. Also weiter zur Zielgerade! Hier waren wir wieder zu dritt und erlebten die Zieleinfahrt, die Aufregung der Journalisten, die Müdigkeit und Freude der Fahrer. Pogacar gewann den Sprint vor Maas und Landa.
Die Menge versammelte sich zur Siegerehrung. Pogacar hatte fast alles gewonnen. Jubel, Fotos, Applaus. klatschen. Für mich fehlte aber etwas. Heute war nach einer langen Karriere der letzte Renntag von Vincenzo Nibali, Alejandro Valverde und vom schwer gestürzten Mikel Nieve. Keine Würdigung, kein Wort über diese grossartigen Fahrer. Schade!
Heimfahrt
Vor der Heimfahrt genossen wir noch ein schönes Abendessen in der Innenstadt von Como. Was für ein Tag! Das Fazit vor der Abfahrt: es war so einmalig, eigenartig und besonders. Dieses Erlebnis hätte man in keinem Radsport-Reisebüro buchen oder kaufen können. Das war einfach passiert.
Voller Eindrücke von unseren Erlebnissen rollten wir nach Hause. Ja, diesmal durch den Tunnel.
Wir waren uns zum Schluss einig: solche Tage müsste man öfters geschehen lassen.